9. Teil: Der Buchstabe "õ"


Der Erfinder des Buchstaben "Õ" war Otto Wilhelm Masing.
Er wurde am 8. 11.1763 in Tartumaa, Lohusuu vald (dieser Bezirk
gehört heute zum Ida-Virumaakond), als Sohn der deutschen
Adligen Anna Ludovica von Hildebrandtiga und des Kösters
Kristian Masicku.
Er ging in Narva zur Schule, anschließend auch in Deutschland
und studierte dort u. a. Theologie. Dort lernte er - zu seinen Mutter-
sprachen estnisch und deutsch - griechisch, italienisch, französisch,
russisch und Latein. Seine umfangreichen Sprachkenntnisse
nutzte er für Übersetzungstätigkeiten, mit denen er zeitweilig
seinen Lebensunterhalt bestritt.
1786 kehrte er nach Estland zurück.
In seinen zahlreichen schriftlichen Werken, die die estnische
Sprache in Schrift und Einheitlichkeit maßgeblich prägten, fand
sich die "Palatalisierung" und die "Dauern" wieder (1821 - 1825).
Seinem Ziel, eine Schriftsprache zu entwickeln, die die gesprochene
Sprache möglichst genau wiedergeben sollte, ist er durch die Ent-
wicklung des Buchstabens "Õ" einen entscheidenden Schritt näher-
gekommen.

Õ ist im estnischen Alphabet der 27. Buchstabe, ohne Fremdbuch-
staben offiziell der 24.
Diesen Buchstaben gab es natürlich schon vor Masings schriftlicher
Festlegung in der Sprache der Esten. Daher kann über den Ur-
sprung dieses Lautes nur noch spekuliert werden.
Sucht man im deutschsprachigen "Wikipedia" nach "estnisch", findet
man einen Artikel, in dem der Autor einen Ursprung von "õ" in der
russischen Sprache vermutet - abgeleitet vom russischen "ы".
Seine Vermutung sieht er darin untermauert, dass "õ" häufiger im
südlichen Estland auftaucht und auf der Insel Saaremaa überhaupt
nicht.
Dem könnte man allerdings entgegenhalten, dass Estland erst im
Jahre 1710 russisch wurde und vorher die deutsche, schwedische
und dänische Sprache die einheimische entscheidend mitprägte.
Das Argument, dass auf der Insel Saaremaa das "Õ" als "ö" ausge-
sprochen wird, könnte auch so gedeutet werden, dass dieses Gebiet
Schweden geographisch einfach am nächsten gelegen ist und der
Einfluss der schwedischen Sprache (hier: das Ö) somit am größten
war.
Es gibt Vermutungen, nach denen "Õ" vom Doppelvokal "OE" ab-
stammt. Auch heute - nach vielen Generationen noch - sprechen
manche Ältere zum Beispiel "võõras" (= fremd) als "võeras" aus.
Möglicherweise ein Hinweis darauf, dass "Õ" innerhalb der est-
nischen Sprache "aus eigener Kraft" heraus entstanden ist.
Fakt ist, dass der Buchstabe bzw. der Laut "Õ" sehr alt in der
estnischen Sprache ist und weit zurückreicht - vermutlich bis zur
Zeit noch vor der russischen Annektierung 1710.
Raum für Spekulationen gibt es also noch...